Seit heute ist es erlaubt, wieder uneingeschränkt in Europa zu reisen. Ich kann das kaum glauben. Für mich bedeutet das, dass ich nach Hause fahren darf. Nach Hause fahren ohne Beschränkungen, einfach so. Einfach so wie vor dem Lockdown! So richtig kann ich es noch nicht begreifen. Nach den stürmischen Zeiten, die uns wie Schiffbrüchige auf eine Insel gebracht haben, die Lockdown - Insel Versailles, sagen wir nun: “Adieu Inselleben!". Als aufmerksame Leser*in bemerkst du, dass da etwas mitschwingt. Was hat dieses Inselleben mit mir gemacht? Zunächst war da Unruhe - wie innen so außen und umgekehrt. Ich musste mich neu sortieren, hatte einen anderen Tagesablauf und neue Herausforderungen zu bewältigen. Die Größte war rückblickend für mich, mit der Freiheitseinschränkung umzugehen. Das liegt daran, dass Freiheit einen hohen Wert für mich hat. Nach diesem Wert konnte ich als Jugendliche nicht leben. Um so höher schätzte ich dann nach dem Fall der Mauer den Wert von Freiheit. Ich habe mich zu Beginn des Lockdowns sehr an meine Vergangenheit zurückerinnert. An Schönes und auch an Dinge, die ich nicht vermisse. Ich spreche vom Lockdown als Inselleben, denn alle Einschränkungen waren zeitlich begrenzt und haben mir dennoch meine innere Freiheit nicht genommen. Ich habe während dieser Wochen erfahren, wie schön „weniger“ ist - weniger in Bezug auf Auswärtstermine. Ich habe auch die technischen Herausforderungen angenommen. Ich schätze mittlerweile Zoom - Meetings & Co sehr. Sicher, diese Treffen ersetzen nicht den persönlichen Kontakt, aber sie ermöglichen es, auf großer Distanz in Kontakt zu bleiben, auch über Ländergrenzen hinaus.
Ich freue mich unsagbar sehr, meine Familie wiederzusehen. Die Reiseplanungen laufen und es fühlt sich an, als ob ich eine Weltreise plane. Ein bisschen bin ich aufgeregt. Wie wird es sich anfühlen, alle unsere Lieben wieder in die Arme nehmen zu können? Was werden die vielen Eindrücke mit mir machen? Dinge, die vor dem Lockdown normal waren, sind jetzt ganz besonders. Ich habe mir vorgenommen, auch zu Hause weniger Termine zu vereinbaren. Ich merke, wie schwer mir das fällt. So gerne würde ich all die Menschen wiedersehen, die mir wichtig sind. Doch ich weiß, dass ich mich damit überfordern würde, abgesehen davon, dass der Tag nur 24 Stunden hat. Ich schmunzle wieder einmal über mich. Wie schnell würde ich alten Gewohnheiten folgen, wenn ich nicht achtsam wäre. Mein Terminkalender wäre minutiös ausgelastet.
Was möchte ich noch nach dem Lockdown beibehalten? Kannst du dich daran erinnern, dass ich an einem der Montage beschlossen hatte, den Wecker auf 6 Uhr zu stellen? „Morgenstund` hat Gold im Mund.“ - so trifft es für mich zu. Ich genieße die Ruhe und Klarheit in den Morgenstunden. Die ungestörte Zeit gehört nur mir. Das mag komisch klingen, denn über unsere Zeit können wir ja immer selbst bestimmen. Doch wenn wir unseren Verpflichtungen nachgehen, kann es leicht passieren, dass wir in einen funktionalen Rhythmus übergehen und hierbei vergessen, was uns gut tut. Zeit beispielsweise für das regelmäßige Träumen kann auch sehr schnell verschwinden. Plötzlich würde man eines Tages das Gefühl haben, ge - lebt zu werden anstatt zu leben. Als Kritiker meiner Gedanken könntest du einwerfen: „So ist nun mal das Leben. Da kann man nichts machen.“ Doch das stimmt nicht, denn wir haben die innere Freiheit, uns zu entscheiden: entweder für oder gegen etwas. Wenn du dich für etwas entscheidest, dann ist es oftmals leichter mit der Umsetzung. Ein „dagegen“ kostet mehr Kraft. Nun mögen Kritiker einwerfen, dass es auch Menschen gibt, die keinen regelmäßigen Wochenrhythmus haben, die zwischen Morgen-, Spät- und Nachtschicht pendeln. Beispielsweise eine Krankenschwester, deren Frühschicht um 6 Uhr oder 6.30 Uhr beginnt, muss eh früh aufstehen. Da macht es tatsächlich keinen Sinn, noch früher den Tag zu beginnen. Was könnte diese Person tun, um Zeit für sich zu haben? Sie könnte nach dem Frühdienst ein Pause einlegen und nicht gleich zu Hause angekommen, sich der Hausarbeit widmen. Was ist aber, wenn diese Krankenschwester Kinder hat, die sie brauchen? Auch Kinder verstehen es, wenn Eltern Pausen brauchen. Ich selbst habe diese Erfahrung gemacht. Als unsere Jüngste geboren wurde, begann ich mittags mit einer Powernap - einen Minimittagsschlaf. Damals habe ich mir den Kurzzeitwecker gestellt: 20 Minuten. Diese 20 Minuten waren meine damalige Tankstelle. Und die Kinder wussten sehr genau, was das bedeutetet. In diesen 20 Minuten MUSSTEN sie leise sein. 20 Minuten können lange sein für Kinder im Alter von 3 und 6 Jahren ohne Fernsehen und Computer. Doch die zwei Großen haben ziemlich schnell gespürt, wie groß der Unterschied zwischen einer genervten und aufgetankten Mama war. Sie achteten meine "heiligen" 20 Minuten.
Unser Leben ist in ständiger Veränderung. So ist es auch mit unseren Lebenssituationen. Was früher stimmig war, muss es heute nicht mehr sein. Mein Leben jetzt ist ein komplett anderes als zu der Zeit als die Kinder klein waren. Die unterschiedlichen Lebenskreise stellen uns vor Herausforderungen und Chancen. Eine Chance , die wir haben bleibt jedoch dieselbe: wir können unser Leben gestalten, um nicht das Gefühl zu bekommen, gelebt zu werden. Ich habe ein großes Privileg. In meinem Leben geht es nicht ums Überleben. In Krisenzeiten mag sich das gefühlsmäßig so anfühlen. Nein, Überlebensalltag im eigentlichen Sinne kenne ich nicht. Ich habe das Privileg, ein gutes und erfülltes Leben zu führen ohne hierbei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das ist mir in der Vergangenheit schwerer gefallen, denn als junges Mädchen kam ich mit der Ungerechtigkeit und dem Hunger in anderen Ländern nicht klar. Heute weiß ich, wenn es mir gut geht, kann ich auch Gutes tun. Hierfür muss man sich nicht aufopfern. Weder dir selbst, noch deiner Familie, deinen Kollegen* noch der Gesellschaft bringt es etwas, wenn wir uns überfordern.
Gibt es auch etwas in deinem Leben, was du nach dem kürzeren Lockdown, den du in Deutschland erlebt hast, anders machen möchtest? Wie hast du diese Zeit erlebt?
Ich freue mich auf deine Geschichte und meine kleine „Weltreise“ nach Hause. Vorfreude setzt viele Glückshormone frei. Ich genieße diesen Glückshormoncocktail.
Dir wünsche ich trotz der kleinen und großen Herausforderungen im Alltag, dass auch du Vorfreude erlebst. Das kann die Tasse Kaffee sein, auf die du dich am Morgen freust oder dein Buch, was auf deinem Nachttisch am Abend auf dich wartet. Es sind die kleinen Dinge, die zu einem erfülltem Leben beitragen. Voraussetzung hierfür ist, dass wir sie wahrnehmen und genießen.
Herzliche Grüße, Susann
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