Zeit ist relativ, schrieb schon Albert Einstein. Gestern habe ich schon über das Phänomen der schneller vergehenden Zeit geschrieben. Ich fragte mich, wann auch bei mir zum ersten Mal das Gefühl aufkam, Zeitdruck zu empfinden. So richtig kann ich mich nicht erinnern. War es in der Zeit meiner Abschlussprüfungen für das Krankenschwester-Examen? Ich erinnere mich noch genau an eine Diskussion mit meinem Vater. Wir standen auf unserem Balkon im 5. Stock einer typischen „Platte“, einem Mehrfamilienhaus aus Betonplatten. Ich jammerte, dass ich es nicht schaffen würde, alles zu lernen. Ich sehe meinen Vater noch wie heute, wie er kopfschüttelnd antwortete: „Warum hast du denn nicht eher angefangen zu lernen?“ Ich lerne bis heute nicht gerne auswendig. Lag es daran, dass ich es nicht einsah, stumpf auswendig zu lernen? Sicher mag das eine Erklärung sein, und doch neige ich heute noch dazu, Dinge auf den letzten Drücker zu erledigen, wenn ich mich nicht diszipliniere. Von ein bisschen Druck fühle ich mich motiviert. Man könnte von künstlerischer Freiheit sprechen. Ja, die brauche ich. Dauerzeitdruck hingegen nicht. Den erlebte ich bereits regelmäßig im Krankenhausalltag. Alles musste immer schnell gehen. Kaum war Zeit für die so wichtigen Gespräche mit den Patienten. Das war im Osten wie auch im Westen Deutschlands ähnlich. Wenn Kollegen ausfielen, sind wir oftmals über die Station gerannt, um allen Aufgaben gerecht zu werden. Die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals haben sich zum Teil verändert, doch leider nicht im Hinblick auf das Thema Zeit. Es wird seit Jahren am Personal gespart, nicht nur im Gesundheitswesen, sondern in allen Bereichen, die keine Gewinne „erwirtschaften“. Kann sich das eine Gesellschaft auf Dauer erlauben? Darüber hinaus sollte dringend über den Wert von Arbeit nachgedacht werden. Wie kann es sein, dass eine Krankenschwester oder ein Pfleger in München, der im Drei-Schicht-System arbeitet, zusätzlich einem Nebenjob nachgehen muss, um ihre/seine Familie zu ernähren? Vielleicht bewirkt das Corona-Virus zumindest, dass sich gesellschaftlich etwas verändert. Wertschätzung ist einer der ersten Schritte. Weiterhin wird hier in Versailles jeden Abend um 20 Uhr geklatscht. Als nächstes braucht es aber auch politisches Handeln.
Zeitdruck
Es wird immer Situationen geben, in denen ich Zeitdruck erlebe. Doch anhaltend empfundener Dauerzeitdruck kann krank machen. Hier kann Achtsamkeit helfen. Getreu dem Motto „Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam.“ Ich interpretiere das so: gerade in Zeiten, die wir stressig empfinden, ist es um so wichtiger, innerlich auszusteigen. Damit können wir jeden Tag wieder neu beginnen und aufmerksam durch den Tag gehen. So entdecken wir viele wunderschöne Kleinigkeiten, wie den Blütenteppich im Bild oben oder die Mohnblumen am Straßenrand.
„Nur Persönlichkeiten bewegen die Welt, niemals Prinzipien.“ Oskar Wilde
Leider beobachte ich einen enormen Druck, der auf Familien lastet. Dieser ist in Zeiten von Corona gestiegen. „Homeoffice“ und „Home-Schooling“ treffen zusammen und potenzieren sich. Nicht jede Familie ist mit einem Laptop ausgestattet, beengtes Wohnen und die veränderte Lebenssituation zerren an den Nerven von Eltern. Kinder dürfen sich nicht zum Spielen verabreden und die Großeltern besuchen. All das färbt negativ auf Kinder ab. Es trifft besonders die sozial Schwachen. Das Schulsystem ist nicht auf eine Krise wie diese vorbereitet. Es war schon vor Corona marode, nicht der Zeit entsprechend angepasst. Die Wissenschaft hat erforscht, wie ganzheitliches Lernen in einer sich veränderten Gesellschaft funktionieren kann. Leider hapert es an der Umsetzung. Sowohl auf Lehrern, Schülern und Eltern lastet ein enormer Druck. Worauf warten wir? Schon jetzt steigt die Zahl der psychisch zu behandelnden Kinder. Immer mehr Lehrer, die engagiert sind, landen im Burnout. Es ist Zeit, das Bildungssystem zu reformieren. Weiterhin sollte es schnell Regelungen geben, die die persönliche Freiheit weniger einschränken. Gerade in den Städten ist das ein Problem. Beim Schreiben dieser Zeilen wird mir sehr deutlich, dass es Geduld braucht von allen Seiten, und doch auch konsequentes Handeln. Ansonsten könnte der Druck im Kessel zu stark werden. Wir haben das in unserem Apartment im letzten Jahr wahrlich erlebt. Heißes Wasser ist in Sekundenschnelle ausgetreten. Das Thermostat war kaputt. Wir hatten Glück, da wir es schnell bemerkten, ansonsten wäre der Kessel explodiert. Mögen alle Verantwortlichen den steigenden Druck in der Gesellschaft bemerken, über den wirtschaftlichen Bereich hinaus.
Kommentar schreiben